Thursday, July 14, 2005

Reflexionen zur Arbeit in der Kultur- und Sozialanthropologie

Erste Worte

Motiviert zu diesem Beitrag wurde ich waehrend des Lesens im Sammelband „Explorationen Ethnologischer Berufsfelder“ (1). Die engagierte Herausgabe der AutorInnen bietet eine gute Uebersicht bezueglich der Arbeit fuer, von und mit EthnologInnen. Rezente Entwicklungen attestieren dem Institut der Kultur- und Sozialanthropologie den „Kollaps“ auf Grund voellig ueberarbeiteter Vortragender, die nebst ihrer Universitaetsbeschaeftigung als ProfessorInnen schriftliche Pruefungen korrigieren, benoten und Vorlesungen vorbereiten muessen. Aktivitaeten, wie Feldforschungen sollen von Kultur- und SozialanthropologInnen durchgefuehrt, Publikationen gelesen und fuer den Unterricht Lehrmaterialien moeglichst zeitgerecht als Interneteditionen oder Kopiervorlagen aufbereitet werden. Arbeit im fachlichen Zusammenhang ist ein unerlaessliches Mittel zur Akzeptanz der wissenschaftlichen Curricula. Der Alltag am Institut fordert permanente Aufmerksamkeit, StudentInnen wollen betreut und beraten, Netzwerke aufgebaut und unterhalten, Gastvortraege, Projekte oder soziales Engagement organisiert werden. Die „Explorationen“ bieten polyphone Informationen zu

◦Arbeitsfeldern,

◦Zusaetzlich zu erwerbender Kenntnisse,

◦Geschlechtsspezifischen Besonderheiten,

◦Einsicht in Argumente seitens der oeffentlichen Arbeitsmarktverwaltung

◦Soft skills,

◦Hard skills,

◦Basic skills,

◦Studienkenntnissen und daraus erwachsenden Moeglichkeiten,

und vieles mehr. Anhand exemplarischer Fragen, die ich in einen virtuellen Dialog muenden lasse, versuche ich eine kurze Positionierung und kommentiere aus der Sicht einer vierzigjaehrigen Studentin des Faches.


Virtueller Dialog

Der virtuelle, schriftliche Dialog setzt sich aus Zitaten, als Fragen und Ausgangspunkte, und persoenlichen Kommentaren zusammen.

Q: Bitte stellen Sie sich kurz vor.

A: Ich bin 1964 in Wien geboren, habe Grundschule, AHS und Universitaet besucht und hoffe mein Studium in absehbarer Zeit fertig zu stellen. Meine Erstsprache ist Deutsch, Zweitsprache Englisch, die AHS bot Unterricht in Deutsch, Englisch, Franzoesisch und Latein, an der Universitaet absolvierte ich ein Semester in schwedischer Sprache, am Juedischen Institut fuer Erwachsenenbildung ein Semester und einen Intensivkurs in Ivrith – Neuhebraeisch, privat moechte ich meine Italienischkenntnisse mit meinem Lebensgefaehrten verbessern, in den USA lernte ich Grundlagen der spanischen Sprache. Ich stelle voran, dass die NDR [sic!] – Neue Deutsche Rechtschreibung – erst ab 31. Juli 2005 per Gesetz verpflichtend ist, mein orthographisches Programm, sowie die Word Rechtschreibpruefung sehr unverlaesslich agieren, und ich die orthographischen Richtlinien der Entscheidungstraeger dahingehend kritisiere, als Intoleranz die Varianz derselben nicht zulassen wollten. Wie im Englischen sollten divergierende Auffassungen akzeptiert werden. Doch die Politik ohne Einbeziehung der Menschen, ihrer Sozialisation und virulenten Probleme, offenbart Einschraenkungen der Lebensqualitaet, strukturelle (und nicht nur diese) Gewalt und Intoleranz. In den Vordergrund der Argumentation werden, wie im Folgenden ersichtlich, Wirtschaftlichkeit und oekonomische Kompetenzen, nicht soziale Oekonomie gestellt.

Q: „Die Universitaeten sollten sich zu den Fachhochschulen abgrenzen, sie muessen sich einfach platzieren innerhalb dieser Wettbewerbsgesellschaft. Das ist der kalte Wind der Oekonomie, der da weht.“ (Beranek / Schneider / Schultheis 2003: 42)

Universitaeten sind von Fachhochschulen klar abgegrenzt, sowohl in der theoretischen, als auch in der methodischen oder praktischen Disposition. Volker Eickhoff vom AMS scheinen die Grundsaetze der „universitas“ – deren einer „Die Lehre ist frei“ heisst – unbekannt oder abhanden gekommen zu sein. Fachhochschulen und Universitaeten muessen – und koennen – sich daher nicht aneinander messen. Bildung an der Universitaet, Studienabschluesse verschiedener Levels, profiliert zu wissenschaftlicher Arbeit, die ohne Praxis nicht existieren koennte. Woher kommt dieser „kalte Wind“, wenn er weht und offensichtlich als gegeben hingenommen, als Direktive agieren soll? Ein Studium soll wissenschaftliche Arbeit lehren, foerdern und dazu befaehigen, eine Profession selbststaendig auszuueben. Wettbewerbe koennen, aus meiner Sicht, auf Grund der Seriositaet von Studien, nur beilaeufig, nebenher oder als Zeitvertreib akzeptiert werden. Ein Maximum an Bildung kann weder durch Drohungen, falsche Vergleiche oder Kuerzungen an Budgets erreicht werden, sondern allein durch den Willen der StudentInnen.

Q: Eine Beschreibung der Kultur- und Sozialanthropologie?

Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie entwickelten seit den 80er Jahren eine Vielzahl an kritischen, fachlichen, Ansaetzen. Angebrachte Skepsis gegenueber den Disziplinen in Rueckblick auf die „Willfaehrige Wissenschaft“ (2) im WWII sollte nicht die Aufloesung oder Abschaffung der Kultur- und Sozialanthropologie zum Ziel haben. Ich moechte hervorheben, dass ich nach mehrfacher Studienrichtungsaenderung, auch des Zweitfachs, nach zehn Jahren beschloss meine Studien, nunmehr im Haupt- und Alleinfach, wieder aufzunehmen. Die Aenderungen der Studiengesetze trugen dazu bei, die Kultur- und Sozialanthropologie adaequat ins dritte Jahrtausend zu transponieren, frei von Zwaengen, voll Praxisnaehe, Methoden, Prozessen und von Ballast befreiten Theorien. Sechs Module (3) und, nunmehr im ersten Studienabschnitt bekannt zu gebende, Wahlfaecher im Ausmass von 48 Stunden unterstuetzen StudentInnen in der Auswahl an fachspezifischen Inhalten.

Q: Wozu Ethnologie heute? (4)

A: Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie heute schafft Freiraeume in Wahrnehmung, im Denken, im Handeln, die, kombiniert mit individuellen (Forschungs-) Interessen, bereits in AHS unterrichtet werden sollten. Nach der Evaluierung und Reformen ab 1998 wird das Fach als Kultur- und Sozialanthropologie bezeichnet.

Die Wissenschaft, kurz KSA, bietet universitaere Ausbildung fuer MenschInnen, die an Aeusserungen von Kulturen auf der ganzen Welt interessiert sind. KSA gibt Einsicht in Theorien und Methoden, die fachspezifisch aufgearbeitet werden, wie zum Beispiel Feldforschung als zentraler Issue der Datenerhebung und der Erkenntnis. So kann KSA Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster erklaeren, in Hinblick auf zukuenftige, global relevante, Prozesse Verstaendnis, Toleranz und Offenheit unterstuetzen oder lokal operieren, und zugleich Menschen, ihre materiellen und immateriellen Kulturen, zahlreiche „Wir – Gruppen“, die individuell in ihrer Zahl variieren, in den Mittelpunkt der Forschung stellen. Die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft der Menschen in allen moeglichen Aspekten thematisiert das grosse Feld der KSA, wie Anthropologie der Genderforschung, der Kunst, der Religions- und Bewusstseinsforschung, der Sinne, Sozialanthropologie, Kinship Studies, Ethnohistorie, Ethnomedizin, Rechtsanthropologie, Kognitive Anthropologie, Applied oder Action Anthropology, um einige zu nennen, koennen in ihrer Variabilitaet zudem aus Fachliteraturen erschlossen werden.

Q: Schlagwort „EDV“?(5)

A: Der Bereich EDV ist aus der alltaeglichen Arbeitspraxis nicht mehr wegzudenken. Spezielle Softwares fuer KSAInnen reichen von bibliographischen Programmpaketen, ueber Bild-, Ton-, Textverarbeitung, bis zu Praesentationsprogrammen. Geraete koennen mit dem persoenlichen PC verbunden und in (international kompatible) Dateien konvertiert, Speichermedien, wie DVDs oder CDs zur Archivierung, spaeteren Bearbeitung oder Katalogisierung erstellt werden. Die Implementierung der meisten Softwarepakete kann selbst organisiert werden, bezueglich Hardware empfiehlt es sich, eineN FreundIn, TechnikerIn oder Verwandte zu kontaktieren – Motto: Vier Augen sehen mehr als zwei (wie explodierte Kondensatoren). Antiviren-, Defragmentierungs-, Firewall-, Netzspannungsblockade- und Ueberhitzungsmeldeprogramme automatisieren die Computerverwaltung – auch im Feld. Taegliche Arbeit mit Medien aller Art sollte innerhalb kuerzester Zeit leicht von der Hand gehen, Details nachlesen oder viel ueben.

Q: Imaginationen zu Arbeitsfeldern?

A: Eigeninitiative, Kreativitaet und Flexibilitaet, sowie Aneignung von zusaetzlichen Qualifikationen, eine gewisse Sensibilitaet fuer Topoi aller Art und virulenten Problemen, die Faehigkeit „hinter die Kulissen zu schauen“ und ein Gefuehl fuer sensitive information sollte jedeR KSA StudentIn in den Beruf mitbringen.

Ich denke, dass jede Beschaeftigung, die Menschen in den Mittelpunkt des Interesses stellt, geeignet ist, von AnthropologInnen ausgeuebt zu werden. Im engeren und im weiteren Sinne. Spontan assoziiere ich sanften Tourismus, Kommunikation mit MigrantInnen, Konfliktloesung und Friedenserhaltung, Friedensverhandlungen, Wahrnehmung divergierender sozialer Rechte, soziale Oekonomie, Museumsarbeit, Kommunikation mit Lernenden – Interessierten, Beratung in jeder Art und Weise, in weltoffenen Betrieben oder Organisationen, die Toleranz als ein Gebot ihrer Arbeit sehen. Dokumentieren von sogenanntem „traditionellen“ Wissen fernab jeder Schulmedizin beispielsweise, Beitraege leisten zu unser aller Ueberleben, Foerderung kreativer MenschInnen mit ihren Visionen der Welt – ich glaube KSAInnen koennen sehr viel bewegen.

Ich denke, je „weitgefaecherter“ unsere Wahrnehmung ist, desto mehr Raum fuer Ideen wird es geben. Die menschliche Gesellschaft ist nicht nur ein Prisma, sondern eine ganze Sammlung von fluoreszierenden Spektren, die ich persoenlich staunend bewundere.

Frei nach Kurt Tucholsky, ist die Sprache unsere schaerfste Waffe. Friedrich Heer forderte uns auf, nicht zu verdraengen und zu vergessen, Karl Kraus betrachtete die Chose ironisch, und um ein Beispiel zu nennen, mein Lateinnachhilfeprofessor Kolm – vor der Matura – erklaerte mir, dass die alten Schriften der griechischen Philosophie nie gaenzlich entschluesselt werden koennen, weil wir heute nicht wissen, welche Vorstellungen mit Begriffen, Buchstabenzeichen oder Saetzen verbunden waren.

Checklist

Ich habe im Folgenden eine Liste zusammengestellt, die sich aus Literatur der „Explorationen“ ergibt. Aus meiner praktischen Arbeit weiss ich, dass diese Skills so gut wie unerlaesslich sind. Der Arbeitsalltag, sei es fachintern oder nicht, setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen. „McJobs“ standen zumindest in meinem Leben am Plan, Flexibilitaet wurde dabei in jeder Beziehung vorausgesetzt. Sprachliche Kenntnisse, die Qualitaet und Quantitaet der Arbeit, aber auch Findigkeit und Ideen wurden verlangt. Improvisationstalent, ein Laecheln, Freundlichkeit und Konzentration, Maschinschreiben / PC, Kassabuecher fuehren oder schnelles Mitschreiben, Gedaechtnisprotokolle erstellen und Respekt wirkten immer positiv. Die „Angst vor´m weissen Blatt“ begegnete auch mir, systematisches Arbeiten, wie in den Proseminaren im ersten Studienabschnitt gelehrt wird, zu trainieren, ist dabei sehr hilfreich. Arbeitsvertraege, die alle Anforderungen der gewaehlten Position auflisten, aber auch Rechte umfassen, koennen im Zweifelsfall ueberprueft werden. Die Arbeiterkammer bietet zum Beispiel rechtliche Beratung und Unterstuetzung, aber auch standardisierte Formulare fuer Werkvertraege, Beratung zum Arbeitsrecht oder Aehnliches an. Ist eine Klage wegen nicht erfolgter Praemien / Sonderzulagen / etc. eingebracht, reagieren auch die Arbeitgeber ploetzlich und umgehend, der Arbeitsplatz war – in meiner Erfahrung – dann passé.

Ich empfehle jedem / jeder Student(e)In moeglichst viel zu lesen und zu lernen, und denke, dass die Studiendauer nicht wesentlich fuer eine Beschaeftigung „danach“ ist.


Fachwissen

◦Theoretische Wissensaneignung: Rezipieren, memorieren und erstellen von Theorien

◦Regionalgebiete

◦Praxisnahe Module

◦Kultur- und Sozialanthropologische Methoden: U. a. Feldforschung, Interviews fuehren, Interpretation von fachrelevanten Inhalten

Praxisbezogene Faehigkeiten

◦Archivieren, Katalogisieren

◦EDV / IT: Bild-, Ton-, Textverarbeitung, Praesentationen und Webseiten erstellen, Internetrecherche, Layout

◦Frageboegen erstellen und auswerten

◦Interviews durchfuehren, transkribieren; auswerten

◦(Projekt-)Konzepte erstellen, damit Ideen auf ihre Konsistenz ueberprueft werden koennen

◦Praezision in Wort und Schrift: Inhalte zusammenfassen und fuer fachexterne Personen oder Medienrezipienten „uebersetzen“

◦Sprachen

◦Termingebundenes Arbeiten: Deadlines oder Sprechdauer einhalten

Soft Skills

◦Flexibilitaet

◦Kommunikations- und Praesentationstechniken: Teamarbeit, Beratung, themengebundene Vortraege,

◦Persoenlichkeitsbildung und -training

◦Rhetorik

◦Toleranz und Offenheit

Hard Skills

◦Marketing / Promotion

◦Projektmanagement

◦Sprachen

◦Termingebundenes Arbeiten

◦Umgang mit Literatur und Quellen


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(1) Czarnowski / Gingrich / Pinkl / Seiser: 2003

(2) Heiss / Mattl / Meissl / Saurer / Stuhlpfarrer: 1989

(3) Czarnowski / Gingrich / Pinkl / Seiser (2003): 14 f.

(4) Czarnowski / Gingrich / Pinkl / Seiser (2003): 15

(5) Kment: Digitale Anthropologie (siehe Internetquellen)


Mediographie

Bibliographie

Czarnowski, Julia / Gingrich, André / Pinkl, Petra / Seiser, Gertraud (Hg.): Explorationen Ethnologischer Berufsfelder. Chancen und Risken fuer UniversitaetsabsolventInnen.

2003 Wien: WUV

Heiss, Gernot / Mattl, Siegfried / Meissl, Sebastian / Saurer, Edith / Stuhlpfarrer, Karl (Hg.): Willfaehrige Wissenschaft. Die Universitaet 1938 – 1945.

1998 Wien: Verlag fuer Gesellschaftskritik

Internet

Kment, Patric: Digitale Anthropologie

http://homepage.univie.ac.at/patric.kment 2005-07-11 4:15:54 PM


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posted by Sybil Amber at 7/14/2005 01:59:00 PM

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